December 3, 2024
Alle Menschen müssen in allen Lebensbereichen dazu gehören können: beim Arbeiten und in der Freizeit, beim Leben in der Nachbarschaft, beim Sport und beim Lernen – unabhängig von Geschlecht, Alter, Herkunft oder Behinderungen. Das zu ermöglichen, ist Aufgabe der gesamten Gesellschaft, so das Fazit der Teilnehmer des Symposiums Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung am 10. März 2016 im Kongresszentrum Stadthalle Heidelberg.
Mehr als 400 Gäste sind der Einladung zu diesem öffentlichen Fachkongress, veranstaltet von der Stiftung Lebenshilfe Heidelberg, gefolgt. Gegründet wurde die Stiftung im Jahr 1994, um Menschen mit Behinderung und ihre Familien im Raum Heidelberg zu unterstützen, wie Manfred Gaul, Kuratoriumssprecher der Stiftung, bei der Begrüßung erklärt. Gefördert wird die Veranstaltung von der Dietmar Hopp Stiftung, der SAP SE und der Sparkasse Heidelberg.
„In der Stadt gibt es noch viele Hürden, die manche gar nicht sehen“, singt der Heidelberger Beschwerdechor zum Auftakt des Symposiums auf der Bühne. „Barrierefrei, barrierefrei. Wir wollen alle hürdenlos beisammen sein.“ Neben den rund 20 Sängern steht eine Gebärdendolmetscherin, die die Zeilen übersetzt. Auf einer Leinwand im Hintergrund der Bühne wird der Text angezeigt, den jemand zeitgleich mittippt.
Alle Menschen müssten den öffentlichen Raum mitgestalten können, erklärt Prof. Dr. Dr. Andreas Kruse, Ordinarius und Direktor des Instituts für Gerontologie an der Universität Heidelberg und Moderator des Symposiums. „Dafür ist es notwendig, dass Räume frei sind von Barrieren – von materiellen, aber auch von ideellen Barrieren, man könnte sagen: von Barrieren in unseren Köpfen.“ Dass eine Entwicklung des Gemeinwesens notwendig ist, meint auch Prof. Dr. Theo Klauß, Aufsichtsratsvorsitzender der Lebenshilfe Heidelberg. „Wir brauchen Nachbarschaften, in denen unterschiedliche Menschen leben, wir brauchen Vereine, die Menschen mit Behinderung aufnehmen, und wir brauchen Arbeitgeber, die bereit sind, Menschen mit Behinderung eine Chance zu geben.“
„Es wird noch viel zu wenig getan dafür, dass Menschen mit Behinderung Arbeit auf dem freien Arbeitsmarkt bekommen“, erklärt Kai Ayubi, der in den Heidelberger Werkstätten der Lebenshilfe Heidelberg arbeitet. Die Zuschauer im Saal klatschen, manche heben ihre Arme in die Luft und drehen ihre Hände – die Gebärde für Beifall. Auf der Leinwand hinter Kai Ayubi erscheint das Wort „Applaus“.
Als Grundlage für solche Veränderungen kann, so die Hoffnung der Tagungsteilnehmer, das Bundesteilhabegesetz dienen – ein Gesetzesvorhaben, das die Regierungskoalition in Berlin als Teil eines Nationalen Aktionsplans zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention auf den Weg gebracht hat.
Über den aktuellen Stand dieses Gesetzes informiert Dr. Rolf Schmachtenberg, Leiter der Abteilung Teilhabe des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Ein ehrgeiziges Vorhaben, so Schmachtenberg, „weil es einen zentralen Systemwechsel vorsieht“. Künftig solle die Unterstützung für Menschen mit Behinderung nicht mehr vom Angebot her gedacht werden – also etwa von der Frage: Heim oder nicht? Sondern vom Einzelnen her und der Frage, wie er seine Teilhabe realisieren wolle. „Der Einzelne soll aus einem Angebot von Leistungen zusammenstellen können, was für ihn das Richtige ist“, so Schmachtenberg. „Das wird kompliziert.“ Und es kostet Geld. Mittel, die im Koalitionsvertrag nicht vorgesehen seien, sagt Schmachtenberg. „Das muss noch erkämpft werden.“ In welcher Höhe – auch das sei noch unklar. (Den Vortrag von Dr. Rolf Schmachtenberg finden Sie hier als PDF-Download: Vortrag Schmachtenberg BTHG)
Auch sei ein solch komplexes Vorhaben nicht von einem Tag auf den anderen umsetzbar, so Schmachtenberg. Schritt für Schritt werden die Änderungen wohl in Kraft treten: Ab 1. Januar 2017 etwa soll der Vermögensfreibetrag für Menschen mit Behinderung angehoben werden: von 2600 Euro auf 25 000 plus 2600 Euro – „wenn der Finanzmister zustimmt“, wie Schmachtenberg einschränkt. Die nächsten Schritte sollen 2018 und 2020 folgen. „So ist der derzeitige Zeitplan“, sagt Schmachtenberg.
Um konkrete und gelebte Inklusion geht es bei einer Podiumsdiskussion. Die Aufgabe, Menschen mit Behinderung Teilhabe zu ermöglichen, sei eine gesamtgesellschaftliche, meint Andreas Schütze, Ministerialdirigent, Leiter der Abteilung „Soziales“ beim Sozialministerium Baden-Württemberg. Nach wie vor gebe es viele Hürden, erklärt der Heidelberger Oberbürgermeister Dr. Eckart Würzner – vor allem finanzielle. „Wenn es nicht gelingt, das Bewusstsein für Selbstbestimmung zu schaffen, wird es auch nicht gelingen, die finanziellen Mittel dafür frei zu bekommen.“ Man dürfe Menschen mit Behinderung nicht nur als Last sehen, fügt er hinzu. „Sie bereichern auch das Miteinander.“
Gerade erst haben die Stadt Heidelberg und der Rhein-Neckar-Kreis einen gemeinsamen Teilhabeplan für Menschen mit Behinderung beschlossen. „Wir sind auf einem guten Weg“, erklärt Landrat Stefan Dallinger. Es gebe eine große Dynamik auf diesem Gebiet. So könnten etwa 100 Kinder im Rhein-Neckar-Kreis bereits inklusiv beschult werden. „Aber, dass wir diesen Teilhabeplan brauchen, zeigt, dass wir noch nicht am Ende sind“, fügt Dallinger hinzu. „Das ist kein 100-Meter-Lauf, das ist ein Marathon-Lauf, der da vor uns liegt.“ Die größte Herausforderung im Bezug auf Inklusion sieht er im Rhein-Neckar-Kreis im Bereich des Wohnens. Um all diese Aufgaben angehen zu können, brauche die „kommunale Familie“ finanzielle Mittel. Allein um den Teilhabeplan umzusetzen, seien pro Jahr etwa sieben Millionen Euro zusätzlich erforderlich.
Beim Thema Inklusion spiele Diversität eine große Rolle, erklärt Prof. Dr. Ulrich Weinberg, Leiter der „HPI School of Design Thinking“ am Hasso Plattner Institut in Potsdam. Bisher werde in unserer Bildungslandschaft vor allem auf die Leistung einzelner geschaut, diese bewertet. Weinberg aber plädiert für eine Bildung, „die stärker auf die Gruppe guckt“ – und statt der Einzel- eher die Gruppenleistung bewertet. „In einem solchen Bildungskontext hätten auch Menschen mit Behinderung eine ganz andere Chance“, sagt er. „Das ist eine Offenheit, die wir in die Bildungslandschaft in Deutschland hinein tragen müssen.“
Dass man eher auf Stärken als auf Defizite schauen sollte, meint auch Prof. Dr. Elisabeth Pott, ehemalige Präsidentin der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. „Wenn das nicht geschieht, werden Menschen stigmatisiert und ausgegrenzt werden.“ Menschen, die „jung, gesund und sexy“ seien, hätten kein Problem einen Arbeitsplatz zu finden. Für alle anderen werde es schwierig.
Die Stärken der Mitarbeiter sind auch aus Sicht von Dr. Wolfgang Fassnacht, Personalleiter von SAP Deutschland, das zentrale Thema. „Wir stellen Software her – und die wollen wir auch an Firmen verkaufen, die zum Beispiel sehbehinderte Mitarbeiter haben. Also ist es hilfreich für uns, wenn wir Mitarbeiter haben, die sehbehindert sind“, sagt er. Dass SAP Menschen mit Behinderung beschäftigt, wie inzwischen etwa 100 Menschen mit Autismus weltweit, liege zum einen an der sozialen Verantwortung, der sich das Unternehmen stelle. Zum anderen aber auch „an der tiefen Überzeugung: Je unterschiedlicher Teams sind, desto leistungsfähiger sind sie“, so Fassnacht. Das gelte sowohl für das Geschlecht als auch für die Herkunft oder eben eine Behinderung. „Inklusion ist auch ein echter Wettbewerbsvorteil.“
Prof. Dr. Johannes Eurich, Direktor des Diakoniewissenschaftlichen Instituts der Universität Heidelberg weist darauf hin, dass das Recht auf Teilhabe nicht ausreicht, um sicherzustellen, dass Teilhabe tatsächlich gelingt. Wenn man keine Kontakte in der Nachbarschaft habe, könne man auch in seiner eigenen Wohnung sozial isoliert sein. „Die Realisierung muss im sozialen Miteinander geschehen“, sagt Eurich und erzählt von einem Projekt, bei dem Menschen mit Behinderung bei der Versorgung älterer Menschen helfen. Die Gesellschaft müsse lernen, mit Vielfalt umzugehen. Das gelinge jedoch nicht von allein, sondern müsse etwa durch Quartiermanager unterstützt werden. „Wir stellen fest, dass wir als Stadt uns darum kümmern müssen, solche Plattformen zur Verfügung zu stellen“, pflichtet der Heidelberger Oberbürgermeister Dr. Eckart Würzner bei. Cafés etwa, in denen Menschen sich begegnen können. Auch Sport sei ein Bereich, der sich sehr gut eigne, um Inklusion zu leben, fügt Katrin Tönshoff, Leiterin der Dietmar Hopp Stiftung, später im Gespräch hinzu.
„Wie sehen wir eigentlich Menschen mit Behinderung?“, fragt Prof. Dr. Jeanne Nicklas-Faust, Bundesgeschäftsführerin der Bundesvereinigung Lebenshilfe. Dass kommunale Gelder nötig seien, damit bestimmte Dinge umgesetzt werden können – das sei eine Seite der Medaille. Doch seien Menschen mit Behinderung nicht nur eine Bereicherung für die Gesellschaft, sondern könnten auch finanziell ihren Teil beitragen. „Wenn sie in bestimmten Arbeitsräumen tätig sind, tragen sie zum finanziellen Ergebnis unserer Gesellschaft bei. Dafür müssen sie eine Chance bekommen“, sagt Nicklas-Faust. „Und die Gesellschaft muss sich von dem Gedanken verabschieden, dass sie nur Empfänger von Hilfe und Unterstützung sind.“
Wie Menschen mit Behinderung auch zur kulturellen Vielfalt beitragen, zeigt die Ausstellung „KunstKannAlles“. Rund 50 Bilder hängen an Stellwänden im Großen Saal der Stadthalle, bringen Leben und Farbe in den ehrwürdigen Saal. Sie stammen von Künstlern der Lebenshilfe Heidelberg, der Kraichgauer Kunstwerkstatt und aus der Sammlung Prinzhorn. Ein Hase und ein Bär sind da etwa zu sehen, die bei den Olympischen Spielen 2014 in Sotschi auf dem Siegertreppchen stehen, über ihnen brennt die Fackel, neben ihnen sitzt eine Frau im E-Rollstuhl und winkt begeistert. Ein paar Bilder weiter ist eine lachende Freiheitsstatue vor der New Yorker Skyline zu sehen. Außerdem zwei riesengroße Pinguine.
„Wenn ich male, bin ich in der Welt meiner Ideen“, sagt Stephan Kayser von der Künstlergruppe der Heidelberger Werkstätten der Lebenshilfe Heidelberg. „Hier ist es bunt und friedlich.“ Die Kunst, fügt er hinzu, biete ihm so viele Möglichkeiten. „Manchmal auch gerade die, die ich im echten Leben nicht habe!“ Die Kunst helfe ihm, Dinge auszudrücken, die ihn beschäftigen. „Hier kann ich alles verwirklichen, ohne mich zu verbiegen. Über meine Bilder erreiche ich die Menschen. Hier schauen sie genau hin, sie nehmen mich über meine Kunst wahr.“
Im Raum nebenan herrscht unterdessen reges Treiben. Rund 20 Vereine, Institutionen und Organisationen haben hier auf einem „Marktplatz der Informationen“, organisiert von „Der Paritätische“ Heidelberg Informationsstände aufgebaut, auf denen Flyer und Broschüren liegen. An einem dieser Stände sitzt Andreas Brauneisen vor leuchtend roten Stellwänden, auf denen das Logo des bmb zu sehen ist – des Beirates von Menschen mit Behinderungen der Stadt Heidelberg. „Ich habe mich beworben, weil ich politisch aktiv sein wollte“, sagt Andreas Brauneisen. Inzwischen sei es ein Ziel der Stadt, dass bei allen Vorhaben, die die Belange von Menschen mit Behinderungen betreffen, der bmb gehört werden müsse. Baut die Stadt, achtet der bmb etwa darauf, dass alles barrierefrei ist. Ebenso an Straßenbahnhaltestellen. „Jetzt sind wir dabei, das Recht von Menschen mit Hörbehinderung auf Gebärdendolmetscher durchzusetzen und zu überprüfen, inwiefern es in der Praxis umgesetzt wird“, erzählt Andreas Brauneisen. Oder inwieweit es Informationen auch in leichter Sprache gibt. Sein Ziel ist, dass „wirklich alles barrierefrei wird“, sagt er. „Und wir haben schon viel erreicht.“ Eine Liste der Teilnehmer des Marktplatzes der Informationen finden Sie hier: Marktplatz der Informationen
Aber noch nicht genug. Einstimmig verabschieden die Teilnehmer des Symposiums am Abend eine Heidelberger Erklärung Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung. Darin fordern sie von allen BürgerInnen und Verantwortlichen in Kommunen, Politik und Gesellschaft:
• ein öffentliches Bewusstsein für die Entwicklung inklusiver Lebensbedingungen und die Rechte von Menschen mit Behinderungen und anderen Exklusionsrisiken zu schaffen, Vorurteilen zu begegnen und über inklusive Entwicklungsmöglichkeiten zu informieren;
• die Entwicklung und Umsetzung von Ideen, Modellen und guten Beispielen für gute Teilhabe im Sozialraum an der Bildung, bei Arbeit und Beschäftigung, in Vereinen, Freizeit und an der Kultur, am Gesundheitswesen und in religiösen Gemeinschaften zu befördern;
• die für die Umsetzung notwendige sächliche, personelle und finanzielle Ausstattung zu sichern sowie offene Finanzierungs- und Zuständigkeitsfragen zügig in konstruktivem Dialog im Sinne der Menschen mit besonderen Exklusionsrisiken zu lösen;
• professionelle und niedrigschwellige Beratung zur Umsetzung von Inklusion in allen Lebensbereichen sicherzustellen und dabei zivilgesellschaftliche Expertisen zu nutzen sowie Barrieren aller Art abzubauen;
• die gesetzlichen Grundlagen für eine inklusive Entwicklung unserer Gesellschaft zu verbessern, insbesondere durch ein neues Bundesteilhabegesetz –, das verlässlich selbstbestimmte Teilhabe in allen Lebensbereichen ermöglicht, unter konsequenter Abkehr von der Fürsorge personenzentrierte individuelle Unterstützung umfassend ermöglicht, Leistungen aus einer Hand gewährleistet, ohne Reduzierung der Qualität oder gar Vorrang der Pflege.
Die Heidelberger Erklärung können Sie hier in leichter und schwerer Sprache herunterladen:
Heidelberger Erklärung Schwere Sprache
Heidelberger Erklärung Leichte Sprache
Zum Abschluss wird es laut im Großen Saal der Stadthalle Heidelberg: Schlagerstar Guildo Horn wirbelt, am Keyboard begleitet von dem Orthopädischen Strumpf Addi Mollig, über die Bühne, springt immer wieder hinunter aufs Parkett, tanzt durch die Reihen und hält den Gästen das Mikrofon hin, damit sie mitsingen können bei Klassikern wie „Aber bitte mit Sahne“, „Tränen lügen nicht“ oder „Guildo hat euch lieb“. Im Gespräch verrät der Sänger, weshalb er gerne zu diesem Auftritt nach Heidelberg gekommen ist: „Ich unterscheide nicht, ob jemand als behindert gilt oder nicht.“ Unter dem Strich zähle nicht, welche Titel jemand habe – sondern nur, ob man sich gut mit ihm verstehe. „Man sollte Menschen nicht immer nach ihren Defiziten beurteilen, sondern vor allem dahin gucken, wo sie ihre Stärken haben“, sagt Guildo Horn. „Man muss die Leute begeistern für Themen wie Inklusion. Man muss Ihnen zeigen: Du hast auch etwas davon.“